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Pflanzenmathematik


Berlin/Uckermark-Wenn ich als Schüler erkannt hätte, dass Mathematik nicht einfach nur dazu da ist, die Wirklichkeit in trockene Systematik zu verwandeln – sondern als die Chance, die Geheimnisse des Universums zu ergründen –, hätte ich mich wohl nicht so schwer damit getan. Und wenn der Lehrer dann noch eine Pflanze aus dem Ärmel gezogen hätte, um mit ihrer Hilfe mathematische Formeln zu erklären, hätte ich vielleicht sogar eine andere Laufbahn eingeschlagen.

Heute bin ich jedenfalls fasziniert davon, dass Pflanzen immer gleich aufgebaut sind und ihre Wachstumsprozesse fast immer identisch ablaufen, sodass man sie anhand mathematischer Formeln ergründen kann. Und weil sich die Zeit des christlichen Oster-Mysteriums besonders gut für ein paar weiterführende Gedanken über Lebenssinn und -systeme eignet, erlaube ich mir heute einen kleinen Ausflug in den transzendenten Teil der Pflanzenwelt.

Denken wir zum Beispiel an den Goldenen Schnitt: Er beschreibt die ungleiche Unterteilung einer Strecke, sodass sich die Kurze zur Längeren so verhält wie die Längere zum Ganzen. Dieses Verhältnis entspricht in etwa der Zahl 1,618. Das ist eine transzendente Zahl, nämlich Phi. Verstanden? Also, ein kurzes und ein langes Stück, das so aufgeteilt wurde, dass das kurze mal 1,618 dem langen Stück entspricht und das lange mal 1,618 dem ganzen Stück. Genau dieses Verhältnis wird von uns als angenehm ausgewogen empfunden.

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In der italienischen Renaissance spielte der Goldene Schnitt in Theologie und Philosophie eine wichtige Rolle. Und zwar in dem Bemühen, die Harmonie der göttlichen Ordnung zu verstehen. In der Antike wurde er etwa in der Architektur angewendet – das berühmtestes Beispiel dafür ist wahrscheinlich der Parthenon-Tempel der Athener Akropolis. Durch die Epochen hinweg findet man in Tempeln, Kirchen und anderen sakralen Gebäuden übrigens ein Schmuckornament, das die Blätter des Bärenklaus (zum Beispiel Acanthus hungarius oder Acanthus mollis) nachbildet. Das ist eine sehr schöne Gartenpflanze, die durch ihren steifen, aufrechten Wuchs optische Struktur in den Garten bringt.

Spektakulärstes Beispiel für den Goldenen Schnitt in der Natur ist die Anordnung der Blütenblätter der Rose. Viele andere Blätter und Blütenblätter folgen diesem Ideal, jedoch nie so vollkommen wie bei der Königin der Blumen. In etwa dem goldenen Schnitt entspricht auch die sogenannte Fibonacci-Folge. Benannt wurde sie nach Leonardo Pisano, genannt Fibonacci, der sie im Jahr 1202 aufschrieb, um damit das Wachstum einer Kaninchenpopulation zu beschreiben.

Grüne Harmonie: Die Spiral-Aloe (Aloe polyphylla) kringelt sich gemäß der Fibonacci-Folge.

Grüne Harmonie: Die Spiral-Aloe (Aloe polyphylla) kringelt sich gemäß der Fibonacci-Folge.

Die Fibonacci-Formel beginnt mit zwei Zahlen (traditionell zweimal die 1), deren Summe die darauffolgende Zahl ergibt. Also: 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13 … und so weiter. Laut Leonardo Pisanos Untersuchungen folgt Wachstum in der Natur diesem Additionsgesetz und findet immer gleich statt. Je weiter man in der Zahlenfolge voranschreitet, desto mehr nähert sich der Quotient der aufeinanderfolgenden Zahlen dem Goldenen Schnitt. Diese Folge ist eine Grundregel der Natur, nach der zum Beispiel auch der Blattaufbau vieler Pflanzen funktioniert. Bei den Ball-Dahlien und den Pompon-Dahlien entspricht der geometrische Blütenaufbau besonders exakt dieser Anordnung, die Dahlien „Nijinsky“ und „Franz Kafka“ sind besonders bekannt dafür.

Blütenblätter sind daher meist spiralförmig angeordnet. Bei Sonnenblumen sind es 55 rechtsdrehende und 34 linksdrehende Spiralen. Auch Gänseblümchen, Disteln und viele andere Blumen folgen diesem Muster, wenn auch mit unterschiedlich vielen Spiralen. Wobei das Verhältnis von links- zu rechtsdrehenden Spiralen in der Natur überall gleich bleibt. Auch bei den Nadelgehölzen: Nicht nur die Nadeln an den Zweigen sind so angeordnet, sondern auch die Zapfen. Bei Kiefern acht in die eine und 13 in die andere Richtung, bei Fichten fünf und acht.

Am verblüffendsten ist aber, dass bei all diesen Pflanzen der Winkel zwischen zwei aufeinander folgenden Blüten, Blättern oder Fruchtständen immer derselbe ist. Nämlich 137,5 Grad. Das nennt man auch den Goldenen Winkel, eben weil er nah mit dem Goldenen Schnitt verwandt ist. Er ist sozusagen dessen geometrisches Pendant.

Die Fibonacci-Folge und der Goldene Winkel stehen jedoch nicht nur für einen als besonders harmonisch empfundenen Aufbau, sondern auch für einen sehr effizienten. Obwohl man sich da nicht ganz sicher ist: Die Arithmetik der Blattstellung scheint es den Pflanzen zu ermöglichen, individuell besonders dichte Blätter auszubilden und diese so anzuordnen, dass sie Schatten aufeinander werfen. So wird die optimale Ausnutzung des Sonnenlichtes ermöglicht.

Stern, Kugel, Zylinder: ein Schulgarten als Hortus geometricus

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Auch andere Gebiete der Mathematik spielen bei Pflanzen eine wichtige Rolle. So trifft man bei Vermessungen von Pflanzenteilen auf eine erstaunlich genaue Umsetzung geometrischer Muster. So würde sich ein Schulgarten besonders eignen, um nachfolgenden Generationen ein wenig Geometrie näherzubringen – auf anschauliche Weise. So könnte man zum Beispiel ein Pflanzfeld mit verschiedenen Blütenarten anlegen: sternförmig ausgebildete Blüten wie an Sterndolde oder Mädchenauge; Blütenkugeln wie beim Zierlauch und zylinderförmige Blütenstände, wie sie der Schlangen-Knöterich ausbildet. Aber auch kerzenförmige Blüten wie die bald blühenden Steppenkerzen dürften in so einem Mathematik-Garten nicht fehlen. Und schließlich noch ringförmige Blütenstände wie die von Bandkraut und Woll-Ziest. Damit wäre eine ganze Palette an geometrischen Formen in Blütenform zu bestaunen.

Dass die Schöpfung der Natur nur auf Zufälligkeit basiert, das glaube ich einfach nicht. Wer genau hinschaut, dem offenbart sich hinter jedem Blatt ein Geheimnis und hinter jeder Blüte ein Wunder. Und wenn dann der Frühling alles sprießen und wachsen lässt, komme ich aus dem Staunen nicht heraus. Dann brauche ich auch gar keine Ostereier mehr, um draußen nach dem Osterwunder zu suchen.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.

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Author: Morgan Ellis

Last Updated: 1699717203

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